Im Gespräch mit… Renate Neid
Renate Neid ist Förderschullehrerin und BO-Stufenleiterin der Erich-Kästner-Schule in Idstein mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Die Schülerinnen und Schüler haben hier die Möglichkeit, sich mit ihren individuellen Fähigkeiten einzubringen und zu entwickeln. Einige von ihnen werden durch Coaches von Barrierefrei starten unterstützt.
In der Schule erhalten beeinträchtigte und lernschwache Schüler und Schülerinnen die benötigte Förderung – doch welchen Verbesserungsbedarf sehen Sie als Lehrerin als Unterstützung für die Betroffenen im Übergang zum Berufsleben?
Da es im Übergang von Schule in den Beruf viele Barrieren gibt, bedarf es mehr Personal beziehungsweise Betreuer für einzelne Schüler. Alle, also auch Rollstuhlfahrer, Blinde usw. sollten überall selbstbestimmt hingelangen können. Das bedeutet, dass alle Barrieren wie beispielsweise Treppen zusätzlich mit Rampen beziehungsweise Fahrstühlen ausgestattet werden müssten. So könnten auch Schüler, die im Rollstuhl sitzen, in eine wohnortnahe Schule gehen.
Theoretisch überzogene Lernanforderungen in der Berufsschule sollten dringend reduziert und überarbeitet werden. In Betrieben sollte es die schon lange geforderten und nur zögerlich umgesetzten theoriereduzierten Berufe geben, damit auch lernbeeinträchtigte Schüler ein selbstbestimmtes Leben führen können und später ihr selbst erarbeitetes Geld erlangen können. Nicht zuletzt müsste sich dringend die öffentliche Haltung behinderten Menschen gegenüber ändern im Sinne einer positiven Gestaltung: statt defizitorientiert mehr kompetenzorientiert.
Inwiefern ist ein individuelles Coaching, wie es durch Barrierefrei starten stattfindet, hier tatsächlich ausschlaggebend für den beruflichen Erfolg?
Der Verein Barrierefrei starten bedeutet für unsere Schule, dass ein Coach einmal pro Woche eine Stunde eine Schülerin in der Schule besucht und mit ihr alle wichtigen Themen rund um den Übergang in den Beruf bespricht, Fragen klärt und Hilfe anbietet. Das heißt wiederum für die Schülerin: Hilfe in wichtigen Fragen, Gewissheit, dass jemand sie unterstützt, der viel Ahnung im Übergang von der Schule zum Beruf hat. Auf das individuelle Coaching von Barrierefrei starten hoffen wir als Schulgemeinde jedes Jahr wieder und sehen es als große Bereicherung für unsere Schüler an: Durch solche individuelle Unterstützung kann der Übergang in den Beruf weniger holprig und effektiver und erfolgreicher werden.
Einige Ihrer ehemaligen Schüler haben es erfolgreich in Praktika und Ausbildungsverhältnisse geschafft – wie ist das für Sie als Lehrerin?
Was für eine Frage! Selbstverständlich freue ich mich über jeden Schüler, der es irgendwie in ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben und damit verbunden in einen Beruf schafft. Viele ehemalige Schüler besuchen uns noch nach Jahren und berichten stolz über ihren Erfolg. Das ist auch für uns Lehrer super.
Weshalb haben Sie sich für eine Tätigkeit als Förderschullehrerin entschieden?
Förderschullehrerin bin ich geworden, weil ich sehr gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeite und das bis zum heutigen Tag! Sie weiter zu bringen und ihnen ein selbstständiges Leben zu ermöglichen beziehungsweise den Weg dorthin zu ebnen, war mir immer schon ein großes Anliegen.
Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf hinsichtlich der Inklusion vor allem im schulischen Bereich?
Inklusion bedeutet für mich, Kinder so zu unterstützen, dass sie „ohne Behinderung“ am gesamten Leben inklusive Schulleben teilnehmen können. Das ist so individuell, wie Menschen eben sind, sodass dazu viel geschultes Personal, aber auch Fahrstühle, Rampen und andere Hilfsmittel gebaut beziehungsweise zur Verfügung gestellt werden müssten, d.h. es müsste von Staat, Land, Kreis viel mehr in Hilfsmittel und Hilfspersonal investiert werden, um Inklusion wirklich zu gewährleisten. Dies ist gesellschaftlich gesehen ein langer Weg. Wir stehen ganz am Anfang.